Schweiz: Entschädigung für schwer behindertes Kind

fs /  Die Mutter eines Kindes, das schwer behindert zur Welt gekommen ist, erhält 30’000 Franken Genugtuung.

Die Ärztin hatte vom Risiko einer erblichen Stoffwechselerkrankung gewusst, es aber unterlassen, die Schwangere auf weitergehende pränatale Untersuchungen hinzuweisen und diese durchzuführen. Damit hat sie das Selbstbestimmungsrecht der Mutter verletzt. Dies hat das Obergericht des Kantons Bern entschieden und damit das Urteil der Vorinstanz bestätigt. Die «Schweizerische Ärztezeitung» hat das Urteil, das bereits vor zwei Jahren gefällt worden ist, öffentlich gemacht. Es ist mittlerweile rechtsgültig, da niemand Berufung eingelegt hat. Das Höchstgericht hatte bisher keinen solchen Fall zu beurteilen. Das Urteil des Obergerichtes hat deshalb Grundsatzcharakter.
Die Mutter konnte vor Gericht glaubhaft machen, dass sie das Kind abgetrieben hätte, wenn sie von dessen schwerer Behinderung gewusst hätte. Eine Abtreibung wäre wegen der erblichen Stoffwechselerkrankung auch nach der 12-wöchigen Frist für einen straffreien Schwangerschaftsabbruch möglich gewesen. Doch die Ärztin machte keine weiteren Untersuchungen. Damit habe sie ihre Sorgfaltspflicht und das Selbstbestimmungsrecht der Mutter verletzt, sagt das Obergericht. Die Mutter habe wegen des fehlenden Wissens nicht abtreiben können.
Das schwer behinderte Kind hingegen, das die Ärztin ebenfalls eingeklagt hatte, erhält keine Genugtuung. Ein «mit einem Fehler behaftetes Leben» («Wrongful Life») sei kein Anlass für eine Genugtuung, heisst es im Urteil. Es sei kein immaterieller, also moralischer oder seelischer Schaden, wenn jemand mit einer Behinderung geboren statt abgetrieben werde. Gemäss des schweizerischen Rechtes habe die Mutter ein Recht darauf, nicht zu gebären. Das Kind hingegen habe keinen Anspruch darauf, nicht geboren zu werden. Es habe weder gegenüber der Mutter noch gegenüber Ärzten ein «Recht auf Nichtexistenz».
Nicht Gegenstand des Verfahrens war materieller Schadenersatz für die Kosten, die durch die Pflege des Kindes entstehen.
Das Urteil des Obergerichtes entspricht der neueren Rechtsprechung in den meisten europäischen Ländern. Danach haben behinderte Kinder aufgrund ihrer Geburt keine Genugtuungs- und Schadenersatzansprüche. Eltern behinderter Kinder hingegen schon.


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